Ein satirischer Nachschlag zum Merz'schen Fettnäpfchen. Ein Besuch auf Deutschlands gefährlichster Straße soll beantworten, wie sicher wir noch sind.
OK, Friedrich-„Nur wer sich ändert, wird bestehen“-Merz hat ein Problem mit dem Bild unserer Städte. Ich muss es wissen, schließlich habe ich jahrelang auf „Deutschlands gefährlichster Straße“ gelebt. Ihren reißerischen Titel hat die Eisenbahnstraße in Leipzig mal vor langer Zeit von der BILD-Zeitung bekommen, und er ist hängengeblieben. Ist ja auch ziemlich catchy. Nur völliger Murks. Ich hab auf diesem Blog bereits über die „Eisi“ geschrieben, und kam zum Ergebnis, dass die Plastiktüten dort so ziemlich das Gefährlichste sind. Aber wenn der Generalissimo anderer Meinung ist – und zuletzt in Umfragen 63 % der Deutschen sagten: „Ja, stimmt, Stadtbild ist mies“ – dann nehm ich das ernst. Und bin aus diesem Anlass mit der Kamera erneut zur Eisenbahnstraße gereist. Vielleicht ist’s in den letzten Monaten ja wirklich schlimmer geworden. Und was ich erlebe, lässt mir den Atem stocken. Hat der Kanzler unserer Herzen doch recht gehabt?
Waffenverbotszone
Warum gibt es in manchen Gegenden eine sogenannte „Waffenverbotszone“? Polizei und Politik argumentieren zwar anders, aber im Grunde geht’s darum, dass in einer solchen Zone jede:r ohne triftigen Grund auf mitgeführte Gegenstände kontrolliert werden kann. Also auch auf Drogen und Ähnliches. Die Eisi war berühmt für ihre Waffenverbotszone. Aber, bei meiner Ortsbegehung muss ich feststellen, dass es die gar nicht mehr gibt. Die seit November 2018 einzige Waffenverbotszone Sachsens wurde im August aufgelöst. Damit die Bürger Leipzigs beruhigt schlafen können, sah der Deal zwischen Ministerium und Stadt vor, dass die Staatsmacht in den Kiez kommt. Ein neuer Polizeiposten auf der Eisi. Jetzt sorgen an der Ecke Hermann-Liebmann-/ Eisenbahnstraße in einem schmucklos hergerichteten Gebäude drei Beamte für Recht und Ordnung. Und zwar tagesabhängig entweder von 14 bis 17 oder von 9 bis 12 Uhr, freitags geschlossen. Wer polizeiliche Hilfe benötigt, der beachte bitte die Öffnungszeiten.

Stadtbild: Leerer Pfosten, hier stand mal das Waffenverbot

Stadtbild: Im Sächsischen Brutalminimalismus gehaltene Polizeidienststelle
Bei mir, Frust: Da zieht man von dieser Straße weg und in nur wenigen Monaten wird die Waffenverbotszone aufgelöst? Das Warnschild an der Ecke Rosa-Luxemburg-/ Eisenbahnstraße: abgebaut. Also nur eine Straße unter vielen? Das Victorinox in meiner Hosentasche fühlt sich sinnlos an, denn wenn’s erlaubt ist, wo liegt der Reiz? Ich überlege, was Friedrich und viele andere Deutsche am Stadtbild stört. Ist das Problem, dass die BILD-Zeitung nicht mehr zuverlässig berichtet, wo’s gefährlich ist und wo nicht? Und man gezwungen ist, selbst Erfahrungen zu machen?

Stadtbild: BILD macht im Mai 2024 guten Journalismus

Stadtbild: Elmo fordert bewusste E-Schrott-Entsorgung
Was soll das ganze Gemüse?
Ich bin hier an einem Dienstag unterwegs. Jeder Tag ist „ruhiger“ als Samstag, weil samstags ist Markttag. Wobei es nicht der Markt ist, den man sich als guter Deutscher wünscht: Hier geht’s ziemlich chaotisch zur Sache. Läuft man von der Innenstadt kommend in die Eisi, kommen schnell die Hausnummern zwischen 17 und 39. Samstags ist es hier am vollsten. Auch unter der Woche sieht man quasi überall Obst und Gemüse. Die Eisenbahnstraße, 2,2 Kilometer lang, beheimatet mehr als 15 internationale Supermärkte (die meisten davon arabisch), und sie begrüßt mich regnerisch und vertraut: einige Schnapsleichen und die Leipzig-Ost-Schmuddelromantik ungekehrter Straßen. Ein paar Fremdsprachen und Frauen mit und ohne Kopftuch. Dazu, dass man als Frau hier nachts ungern allein unterwegs ist, sag ich unten noch was.

Stadtbild: Gemüse

Stadtbild: Exotische Genüsse
Ich denke an das Gemüse. Ist es das, was diese Stadt ausmacht? Oder doch das Tiramisu? In der Könneritzstraße, im Westen Leipzigs, brach eine 31-Jährige im September und Oktober 2024 gleich zweimal beim selben Italiener ein – nicht wegen Geld, sondern wegen des Tiramisu. Während die Überwachungskamera alles filmte, verpackte sie das Zeug mit Tortenheber und Alu-Assietten und ging wieder. Zwei Monate später schlug (nachdem man vorher ernsthaft DNA-Proben entnommen hatte) die SOKO Tiramisu am Flughafen zu, wo die Dame nach Ägypten abhauen wollte. Seither sitzt sie in U-Haft, es drohen ihr einige Jahre Gefängnis. An sich möchte ich der Obrigkeit ja keinen Rassismus unterstellen. Sind es also die Kopftücher, die Merz mit „Stadtbild“ meint? Oder die Tiramisu-Delikte? Oder ist es dieses unsägliche Gemüse? Mit offenen Fragen zieh ich weiter.

Stadtbild: BILD covert die wahren Verbrechen

Stadtbild: Das neue Sportbad am Rabet, im August eröffnet, 3,8 Sterne auf Google
Fear and Loathing
Die Hausnummern zwischen 46 und 66, auf Höhe des Rabetparks, sind besonders gefürchtet. Hier wird regelmäßig bei hellichtem Tag mit gefährlichen Substanzen wie Cannabis gehandelt. Jeder rechtschaffene Bürger macht einen großen Bogen um diesen Bereich. Bei meiner Ortsbegehung stelle ich fest: nichts. Keine Blicke, keine Angebote, keine Fragen. Ist das das Ergebnis von 3 Teilzeit-Cops in der Straße? Lässt sich der Schwarzmarkt so kleinkriegen? Und ist es das, was Merz am Stadtbild stört? Kein Supply, um die Vorzüge der Teillegalisierung genießen zu können? Ich beschließe, zu meinem Lieblings-Kebabmenschen zu gehen, direkt gegenüber, in Nr. 57. Der hat mich schon anschreiben lassen, als er mich noch gar nicht richtig kannte. Die absurde Anzahl arabischer Restaurants auf der Eisi macht übrigens überhaupt keinen Sinn und ich wär nicht überrascht, wenn die Hälfte von ihnen einfach eine intergalaktische Pforte sind.

Stadtbild: Keine Dealer

Stadtbild: Matratzentransport
Während ich gemütlich sitze und auf meine Köfte in Tomatensauce warte (10 bis 15 Minuten für ein Ofengericht gehen voll OK), überlege ich, was eigentlich eine hübsche Straße ausmacht. Das Thema wird mir zu kompliziert, darum entscheide ich mich, die Experten für Stadtbilder zu fragen. Ohne das nomen delicti zu nennen, möchte ich von der CDU-Fraktion Leipzig per E-Mail wissen, wie sie denn die Situation auf der Eisi nach Ende der Waffenverbotszone einschätzt. Man antwortet mir: Für eine Aussage sei es noch zu früh. Außerdem nennt man mir die offiziellen Kriminalstatistiken als Quelle. Ist das neu? Seit wann braucht die CDU für einen Kommentar eine sorgfältige Analyse? Ich denke an diese Statistik und befürchte Rechercheaufwand. Wenigstens lassen mich die Köfte nicht im Stich, ich esse, zahle und gehe.

Stadtbild: Event-Expressionismus (Kollektion Herbst/Winter 2025)

Stadtbild: Köfte und Ofenbrot
Ein schrecklicher Verdacht
Für alle, die für die Eisenbahnstraße zu schwach sind, bieten Ludwig-, Mariannen- und Konradstraße semi-sichere Refugien direkt ums Eck. Hier findet man eine evolutionäre Zwischenstufe, irgendwas zwischen Alternative und Arrivierte – ordentlich gentrifiziert, aber gleichzeitig zu unsicher angestellt, um wirklich angekommen zu sein. Alles, was diese Spezies kann: die Mietpreise hochtreiben, in jedem Randbezirk, den die urbane Bohème gerade befällt. Hier setze ich mich auf eine zweifelhafte Bank und schaue mir die Kriminalstatistiken von Polizei und Stadt an. Die Menschen im Zentrum Leipzigs fühlen sich am sichersten (man nennt das auch „niedrige Kriminalitätsfurcht“) – obwohl dort im Verhältnis zur Bevölkerung die meisten Straftaten registriert werden. Das resultiert hauptsächlich aus Laden- und Taschendiebstählen, die Anwohner kaum wahrnehmen. Die Eisenbahnstraße wird von der Stadt weiterhin als Gebiet mit „häufiger Wahrnehmung von Störungen der öffentlichen Ordnung“ geführt – obwohl die tatsächliche Kriminalitätsbelastung dort deutlich niedriger ist als im Zentrum. Zwischen gefühlter und tatsächlicher Unsicherheit klafft eine Lücke.

Stadtbild: Gleich viel sauberer

Stadtbild: OK, doch nicht
Ich hatte auch der AfD Leipzig geschrieben, aber bei denen hat man den Braten wohl gerochen. Und wenn die Experten für Rassismus nicht antworten, bleibt ein schrecklicher Verdacht: Kann es sein, dass es für manche politisch opportun ist, dass den migrationsstarken Stadtbezirken der Ruf besonderer Gefährlichkeit anhaftet? @Stadtrat: Ein paar entrümpelte Möbel vor den Häusern machen noch lang kein Ghetto. Und wenn’s nach den Zahlen geht, stimmt auf den besseren Straßen Leipzigs das Stadtbild nicht.

Stadtbild: Wenn’s mal nicht regnet, gibt es hier lecker Aperölchen im letzten Sonnenlicht

Stadtbild: Sozialistische Gedächtnisbahn
Erleuchtung in Leipzig Ost
Ich schau mich um. Hier, in der Ludwigstraße: Fahrradreparaturstätten. Leipzig ist nicht nur Fahrradstadt, sondern „Fahrraddiebstahlstadt“; jeder Leipziger hat mindestens eine gute Geschichte, wie ihm oder ihr das Veloziped unterm Arsch weggestohlen wurde. Und weil der Markt an günstigen Rädern die Nachfrage nie befriedigen kann, ist in dieser Stadt das „Ich arbeite mit Fahrrädern“ eine angesehene Berufsbezeichnung. An der Ecke Ludwig-/ Bussestraße: Ein „Zen Lab“, ein communityfinanziertes Projekt, das einen Raum für transformative, psychologisch orientierte Zen-Meditation schafft. Hier wird morgens und/ oder abends gemeinsam meditiert. Die Gründer möchten vor allem jüngere Menschen ansprechen, die einen Ort der Stille suchen. Good luck, und Frage: Liegt das Stadtbild-Problem an den gestohlenen Fahrrädern? Oder sind es die weißen Mitzwanziger, die unter Umgehung des christlichen Gottes versuchen, zu irgendwelchen Erkenntnissen zu kommen? Frieden suchen anstatt „Wohlstand durch mehr Arbeit“ zu schaffen? Ich glaub, es hakt.

Stadtbild: CO₂-bewusste Mobilität

Stadtbild: GebetsMeditations-Zeiten
Wer die Hoffnung für sein Leben völlig aufgegeben hat, der findet sich fast am Ende der Eisenbahnstraße irgendwo zwischen den Hausnummern 116 und 136 ein. Passend zur Gentrifizierung steht dort eines der beliebtesten veganen Restaurants in Leipzig, in der Nr. 128, mit 4,7-Sternen auf Google. Man sitzt dort auf Möbeln, die irgendwas mit Kunst zu tun haben. Und zum Vönerteller oder zur „Seitanwurst in pikanter Currysauce“ wird ausschließlich tschechisches Bier gereicht. Ginge es nach Markus Söder, dann ist man hier, an diesem Ort, im neunten Kreis der Hölle angekommen. Fleischloses Essen, in Imbissqualität zu Restaurantpreisen, und dazu Bier mit unbekanntem Reinheitsgebot. Zum Glück halten mich die Köfte weiter gesättigt, denn mir reicht’s.

Stadtbild: Ramponierte „Bier“-Werbung vor veganem Restaurant

Stadtbild: Nach Vöner-Verzehr kann man Trost im Baklava finden
Fazit
Mein Besuch der Eisenbahnstraße hat schwach angefangen und stark nachgelassen. Das Leben im Osten passt auf keinen Bierdeckel und zwischen Eisi und Sauerland liegen Welten. Ob das hier das Stadtbild ist, das man sich für unser Land wünscht? Muss jeder für sich selbst entscheiden. Die „gefährlichste Straße Deutschlands“ hat diesen Ruf nicht mehr verdient, und ich schicke LG und einen Appell an die BILD-Schreiber: Denkt euch was Neues aus! Zum Schluss, ein ernstgemeintes Fazit: Natürlich passieren hier, wie anderswo, auch unschöne Dinge. Strukturell muss und wird sich einiges ändern. Ich kenne Frauen, die nach Anbruch der Dunkelheit nur in Gruppen auf die Eisi gehen. Ob das regelmäßig auch in Übergriffigkeiten, etc. mündet, kann ich nicht sagen. Aber auf die „Kriminalitätsfurcht“ kommt’s an. Ist uncool, wenn man sich in seiner eigenen Stadt allein nicht sicher genug fühlt. Nur: Wäre es Merz von Anfang an um die Sicherheit „unserer Töchter“ gegangen, hätte er nicht ganz allgemein vom „Stadtbild“ geschwafelt. Da muss man halt auch mal konkretisieren. DIE ZEIT stimmt zu und, während ich das tippe, titelt sie: „Mehrheit fordert von Friedrich Merz mehr Sorgfalt bei der Wortwahl.“ Duh.
